Nach dem Ersten Weltkrieg zog es den Schweizer Komponisten Frank Martin nach Zürich, Rom und schließlich in die französische Hauptstadt. In seiner Pariser Zeit von 1923 bis 1926 entstanden seine bekannten Trio sur des melodies popularies irlandaises (1925) und die Rythmes (1924-1926) für Orchester. Für ein Pariser Marionetten Theater schrieb er dort außerdem sein Diptychon Overture and Fox Trot (1924) für zwei Klaviere. Als der Komponist 1927 nach Genf zurückkehrte, um dort eine Lehrstelle am Institut Jaques-Dalcroze aufzunehmen, entstand die zweite Fassung des Fox Trot als Adaption für kleines Orchester. (Flöte, Klarinette, Oboe, Fagott, Horn, Trompete, Posaune, Klavier, Streicher)
. . . . . . . . . .
.
Trotz des Bezugs zur Popularmusik und zum Jazz verzichtete Frank Martin aber auf typische Instrumente wie das Saxophon und verwendet auch keine Perkussion für sein Stück. Die Bearbeitung, so Pieter Mannearts, sei durchaus keine Imitation amerikanischer Populärmusik, sondern eine Arbeit, die beispielhaft für die Integration „importierter“ Stilelemente in eine Komposition, die sehr europäisch bleibt.
Der Fox Trot folgt einer schlichten A-B-A‘-Form. Das Werk öffnet mit einer absteigenden, chromatisch gefärbten Melodie der Oboe über einer leichten Begleitung in g-Moll, gespielt vom Klavier und Streichern. Ein sequenzierendes Pattern moduliert klug und überraschend durch eine lange Reihe von Tonarten, bevor es nach g-Moll zurückkehrt. Der B-Teil beginnt mit einer Melodie in G-Dur in den Trompeten, charakterisiert durch ein zentrales Motiv mit einer kleinen Terz (h-d). Zurück zur Sektion A‘ kehrt das Anfangsmotiv, zuerst intoniert durch die Klarinetten, später von den Streichern übernommen, dann von den Bläsern, abschließend verstärkt durch Klavier und Streicher. Die Musik steigert sich in ein kraftvolles Tutti – bevor sie fast unmerklich vergeht.
Am 20. Dezember 1927 wurde der Fox Trot wurde am vom Chamber Orchestra of Boston unter Nicolas Slonimsky uraufgeführt
aus Ich will dir singen ein Hohelied Sechs Lieder auf Gedichte von Gerda von Robertus (Gertrud von Schlieben)
.
. .
Geschmeidig und wild wie ein junger Panther So hast du von mir Besitz ergriffen. Ach, wie weich ist dein Sammetfell, du schöner Panther. Ach, und die Sammettatzen, wie lieb sie streicheln! Lass mich nie, nie deine Krallen spüren; Neulich im Traum grubst du sie mir in's Herz!
Hallo, jetzt fahren wir nach Birma hinüber. Whisky haben wir ja noch genügend dabei und Zigarren rauchen wir, „Henry Clay“, und die Mädels sind mir ja auch schon über na, da sind wir eben jetzt so frei – ja, da sind wir eben jetzt so frei! Denn andere Zigarren, die rauchen wir nicht und weiter wie Birma, reicht dem Kasten der Rauch nicht und einen lieben Gott, den brauchen wir nicht und einen Anstand, den brauchen wir auch nicht – Na also, good-bye! x Und das segelt so hin – und das kommt auch mal an und ein lieber Gott lässt sich nicht blicken und dem lieben Gott, dem liegt vielleicht auch gar nichts daran na und wenn, dann muss er sich drein schicken – Na also, good-bye! x Mit „Mensch bei mir nicht!“ und „Na wat denn, mein Sohn!“ und „Fehlt’s wo, dann lass mich’s mal wissen!“ Und ’ne feinere Regung nicht um ’ne Million – Da wird eben auf alles gepfiffen x Ja das Meer ist blau, so blau und das geht alles seinen Gang und wenn die Chose aus ist dann fängt’s von vorne an – Ja das Meer ist blau, so blau und das geht ja auch noch lang! Ja das Meer ist blau, so blau das Meer ist blau. x Hallo, da könnten wir zum Beispiel mal ins Kino gehn, das kostet Geld das hat doch kein Gewicht. Ja graue Harre wachsen lassen wir uns nicht. Leute wie wir, die müssen sich auch mal amüsieren. Denn für sie, da gibt es keine Pflicht. Zigarren unter fünf Cents, die rauchen wir nicht und Schwarzbrot verträgt doch ihr Bauch nicht, und für’s andere sorgen, das brauchen sie nicht und mal in sich gehen, brauchen die auch nicht, das hat sein Gewicht. x Und das lebt so dahin – und das stellt sowas an und ein lieber Gott lässt sich nicht blicken, und dem lieben Gott, dem liegt vielleicht auch gar nichts daran und wenn, dann muss er sich drein schicken – Na also, good-bye! x Mit „Mensch bei mir nicht!“ und „Na wat denn, mein Sohn!“ und „Fehlt’s wo, dann lass mich’s mal wissen!“ Und ’ne feinere Regung nicht um ’ne Million – Da wird eben auf alles gepfiffen x Ja das Meer ist blau, so blau und das geht alles seinen Gang und wenn die Chose aus ist dann fängt’s von vorne an – Ja das Meer ist blau, so blau und das geht ja auch noch lang! Ja das Meer ist blau, so blau das Meer ist blau. x Jetzt braucht da nur einmal ein Sturm zu kommen na ja, da ist’s ja schon das Dock von Birma – Halt du, das ist doch nur ’ne schwarze Wolkenwand Mensch und die Wellen, ’s ist ja allerhand! Mensch, das verschlingt uns ja die ganze Firma – Ja, da sind wir jetzt glatt am Rand ja, da sind wir eben jetzt am Rand! Bald sinkt das Schiff zu Grund, das Meer geht drüber Und die versunken sind, sieht nur der Hai im See – Da hilft kein Whisky mehr und keine „Henry Clay“! Wo’s jetzt hingeht, da geht kein Mädchen mehr mit rüber – Ja, da heißt’s auf einmal jetzt, good-bye! Ja, da heißt es enen jetzt, good-bye! x Und das Wasser, das steigt, und das Schiff, das versinkt und ein rettender Strand lässt sich nicht blicken. Nur ein Schiff, das nicht schwimmt, nur ein Strand, der nicht winkt, na, da muss jeder sich dreinschicken – na also, good-bye! x Da hört man auf einmal keine großen Reden mehr da sind sie auf einmal alle ganz klein da plappern sie plötzlich alle ein Vaterunser her da will’s plötzlich keiner mehr gewesen sein! denn jetzt ist’s vorbei. x Und jetzt will ich mal was sagen: Das kennen wir schon! Da wird ein Leben lang das Maul aufgerissen und steht so was dann vor Gottes Thron dann wird in die Hosen geschissen. x Ja das Meer ist blau, so blau und das geht alles seinen Gang und wenn die Chose aus ist dann fängt’s von vorne an – Ja das Meer ist blau, so blau und das geht auch nicht mehr lang! Ja das Meer ist blau, so blau das Meer ist blau.
Die Jahreszeiten wandern durch die Wälder. Man sieht es nicht. Man liest es nur im Blatt. Die Jahreszeiten wandern durch die Felder. Man zählt die Stunden. Und man zählt die Gelder. Man möchte sich fort aus dem Geschrei der Stadt. x Der Blumentopf am Fenster ist dir näher. Nimm ein Vergrößerungsglas, dann wird’s ein Wald. Was kann man and’res tun als Europäer. Die Stadt ist groß, die Stadt ist groß und klein, klein ist dein Gehalt. x Das Dächermeer schlägt ziegelrote Wellen. Die Luft ist dick und wie aus grauem Tuch. Man träumt von Äckern und von Pferdeställen. Man träumt von Teichen, Bächen und Forellen. Man möchte in die Stille zu Besuch. x Der Blumentopf am Fenster ist dir näher. Nimm ein Vergrößerungsglas, dann wird’s ein Wald. Was kann man and’res tun als Europäer. Die Stadt ist groß, die Stadt ist groß und klein, klein ist dein Gehalt.
Das Chanson für Hochwohlgeborene
Sie sitzen in den Grandhotels! Ringsum sind Eis und Schnee. Ringsum sind Berg und Wald und Fels. Sie sitzen in den Grandhotels und trinken immer Tee. Und trinken immer Tee.
Sie haben ihren Smoking an. Im Walde klirrt der Frost. Ein kleines Reh hüpft durch den Tann. Sie haben ihren Smoking an und lauern auf die Post. Und lauern auf die Post. x Sie schwärmen sehr für die Natur und heben den Verkehr. Sie schwärmen sehr für die Natur und kennen die Umgebung nur von Ansichtskarten her. Von Ansichtskarten her.
Der Song „Man müßte wieder…“
Man müßte wieder durch den Stadtpark laufen mit einem Mädchen, das nach Hause muß und küssen will und Angst hat vor dem Kuß. Man müßte ihr und sich vor Ladenschluß um zwei Mark fünfzig ein paar Ringe kaufen. Man müßte wieder nachts am Fenster stehn und auf die Stimmen der Passanten hören, wenn sie den leisen Schlaf der Straßen stören. Man müßte sich, wenn einer lügt, empören. Und ihm fünf Tage aus dem Wege gehn. Man müßte wieder seltne Blumen pressen und auf dem Schulweg ohne Sorgen schrein. Man müßte wieder sechzehn Jahre sein und alles, was seitdem geschah, vergessen. x Man würde wieder seiner Mutter schmeicheln, weil man zum Jahrmarkt ein paar Groschen braucht. Man sähe dann den Mann, der lange taucht, und einen Affen, der Zigarren raucht, und ließe sich von Riesendamen streicheln. Man ließe sich von einer Frau verführen und dächte stets: Das ist Herrn Nußbaums Braut! Man spürte ihre Hände auf der Haut. Das Herz im Leibe schlüge hart und laut, als schlügen nachts im Elternhaus die Türen. Man müßte wieder roten Pudding essen und schliefe abends ohne Sorgen ein. Man müßte wieder sechzehn Jahre sein und alles, was seitdem geschah, vergessen.
Die lyrische Suite in drei Sätzen Leben in dieser Zeit von Erich Kästner und Edmund Nick, welche am 14. Dezember 1929 erstmals als Hörspiel von der Schlesischen Rundfunkstelle in Breslau gesendet wurde, stammt aus der Pionierzeit der Radioübertragung und wusste die damals neuen Möglichkeiten und Anforderungen der Sendetechnik auf raffinierte Weise für sich zu nutzen. Das Hörspiel Leben in dieser Zeit wurde nach der Ursendung zum Erfolgsstück der Folgejahre und hielt in neukonzipierten Fassungen bald Einzug in Konzertsälen – erstmals am 18. Jänner 1931 im Wiener Konzerthaus zur Aufführung gebracht – und wurde weiters für über 30 Bühnen zum Theaterstück dramatisiert – die szenische Uraufführung fand am 16. Oktober 1931 im Alten Theater Leipzig statt. _Das Stück erlebte auf deutschsprachigen Bühnen bis 1932 zwar zahlreiche Aufführungen, 1933 wurde es allerdings von den Nationalsozialisten verboten und geriet nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Vergessenheit. .
Der Rundfunk als Wiege neuer musikalischer Experimente und Konzepte __– zurEntstehung des Hörspiels Leben in dieser Zeit
Welche Musik sollte über das neue Medium Radio übertragen werden? Alte Musik, ernste, leichte Musik oder doch zeitgenössische?__Das Ziel der damaligen Programmgestalter war es, eine eigene „radiophone“ Musik zu etablieren, die sich speziell den technischen Möglichkeiten und Neuerungen annahm, die der Rundfunk zu bieten hatte, und die somit auch in Hinblick auf die Wiedergabe über den Lautsprecher angelegt wurde. _Dieser Diskurs spiegelt sich konsequenterweise in den Werken wider, die während der ersten Jahre für Rundfunksendungen komponiert wurden: Zeitgenössische Komponisten – darunter Edmund Nick oder Eduard Künneke, die sich vermehrt populären Strömungen widmeten, und deren „ernstere“ Kollegen wie Paul Hindemith, Kurt Weill, Pavel Haas, Ernst Toch oder Franz Schreker – experimentierten auf dem Feld dieses neuen Übertragungsmediums und es entstanden bald erste eigene Radiomusiken. _ Solche Rundfunkmusiken repräsentieren als Ganzes eine Schnittstelle von Unterhaltungsmusik und verschiedensten musikalischen Strömungen der Zeit in der Weimarer Republik. Die Redakteure arbeiteten mit Hochdruck, um ein Programmangebot bereitstellen zu können, das mit dem rasanten technischen Fortschritt der Zeit mithalten konnte: „Beliebt waren Schallplattenkonzerte, Vortragsabende, Reportagen und Live-Übertragungen von Opern, Operetten und Sinfoniekonzerten. Hinzu kommen die Unterhaltungsmusiksendungen aus großen Hotels oder Tanzpalästen.“ (Ernst Theis und Uwe Schneider in: https://www.rundfunkschaetze.de/edition-radiomusiken/vol-1-radiomusik-leben-in-dieser-zeit/)
„Breslauer Koryphäen in der Karikatur“ von Iwan von Jensensky „Wie sich unser Karikaturist den unsichtbaren Vorgang des Sendens für seine begriffliche Auffassung zurechtlegt. Dr. Edmund Nick, der musikalische Haus-geist der Schlesischen Funkstunde“ – aus der Zeitschrift „Schlesische Theater- und Musik-Woche“ Nr-16 von 1924. (https://www.rundfunkschaetze.de/edition-radiomusiken/vol-1-radiomusik-leben-in-dieser-zeit/)
Das Verbreitungsmedium Radio verlockte auch Erich Kästner dazu mit dieser neuen Methode der Informations- und Kunstvermittlung zu experimentieren und so verfasste er das Manuskript zu Leben in dieser Zeit. Dieses legte er an der Rundfunkstelle in Breslau vor, wo er regen Zuspruch für sein Werk bekam – auch von Edmund Nick, der seit 1924 die Leitung der Musikabteilung der Schlesischen Funkstelle Breslau inne hatte. Mit dem für damalige Zeiten innovativen, experimentellen Manuskript meinte man, die neuen technischen Möglichkeiten des Rundfunks umfangreich ausschöpfen zu können und so begann bald die Suche nach einem passenden Komponisten für Kästners Text. Die Vertonung sollte Kurt Weill übernehmen, der durch die 1928 uraufgeführte Dreigroschenoper bereits zu einem erfolgreichen und angesehen Komponisten seiner Zeit avanciert war. Mitten in der Arbeit zu Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny winkte er dankend ab.__Da Weill aber die Songvertonungen Edmund Nicks kannte und schätzte, wie später die Tochter Dagmar Nick berichtet, soll er dem Leiter der Funkstelle nahe gelegt haben: „Nick machen Sie das doch!“ – und das tat er auch.
Mit dem Ziel, ein auf die Sendemöglichkeiten des Radios angelegtes Stück präsentieren zu können, montierte Erich Kästner bereits veröffentlichte Gedichte, Kabarett-Texte, einen Chor sowie Geräusche und Zwischendialoge zu einer Collage, welche ein Bild darüber zeichnet, wie das damalige Erwachen der Metropolen und ihren Menschenmassen, das Schicksal des Einzelnen in der modernen Zeit und andere Modethemen das Leben der Bevölkerung beeinflussten. Einen Überblick zur Musik des Hörspiels fasst der Dirigent Ernst Theis zusammen:
„Liedhafte Chansons mit ihrer poetischen Bildsprache und der genretypischen starken Konzentration auf die Textaussage decken die Vielzahl der kritischen und satirischen Themen und wechselnden Stimmungen ab. Edmund Nicks Musik, mit ihren prägnanten rhythmischen Figuren und großen Melodieeinfällen, ihrer Eingängigkeit und ihrem Kontrastreichtum war kongenial gedacht. Es war Musik der Zeit, tänzerisch und jazzig, aber auch lyrisch und kunstvoll zu immer neuen Höhepunkten gesteigert.“
Der Titel der lyrischen Suite ist Programm: Die Texte geben ein Abbild der Gesellschaft am Ende der Goldenen 20er Jahre wieder und beschwören bereits herauf, was zu dieser Zeit noch keiner ahnen wollte, nämlich eine schwerwiegende Weltwirtschaftskrise, die mit dem Börsenkrach am „schwarzen Freitag“ am 25. Oktober 1929 an der New Yorker Wall Street freilich schon ihren Vorboten gefunden hatte. Leben in dieser Zeit hat keine durchgehende Handlung im klassischen Sinn, sondern zeigt ähnlich einer Revue szenische Ausschnitte und Stimmungsbilder ohne dabei auf direkte dramaturgische Abläufe angewiesen zu sein. Der Erich Kästner charakterisierte den Inhalt seines Werkes 1931 in einem Programmheft des Altonaer Stadttheaters:
„Unsere Kantate wird man kaum fromm nennen wollen. Es ist eine Laienkantate. Sie wendet sich an die Menschen der Großstadt, sie bringt ihnen ihresgleichen zu Gesicht und Gehör, sie demonstriert ihre Sorgen, ihre vergeblichen Wünsche und ihre Methoden, das ‘Leben in dieser Zeit’, so schwer erträglich es ist, zu meistern.“
Eine genauere Vorstellung vom Inhalt des Hörspiels erhält man dagegen etwa beim Lesen einer Kritik von Fritz Rosenfeld für die Wiener Arbeiter-Zeitung vom 21. Jänner 1931:
„Der ‚Held’ des Werkes heißt Kurt Schmidt und ist einer aus dem Heer der Millionen, die in den Büros der Großstädte an staubige Schreibtische gefesselt sind, die ihr Leben mit dem zusammenrechnen von Zahlen verbringen, die abgestumpft werden gegen die Leidenschaften, weil seinen Leidenschaften nur leben darf, wer Geld hat, die abgestumpft werden gegen die Natur, weil die Natur nur genießen darf, wer Geld hat. Die Resignation treibt diese Millionen Kurt Schmidts in den Geist halbspießerlicher Selbstzufriedenheit unter der nur leise der Gram und der Groll über ein freudloses, einförmiges Dasein lebt. Kästner stellt seinen Helden zwischen einen abgeklärten, satten seelisch robusten Räsoneur und die durch Sprechchor repräsentierte Masse der Arbeitsmenschen. Kurt Schmidt hat nicht das Phlegma, mit dem der Räsoneur die Widrigkeiten des Lebens als Schicksalsfügungen hinnimmt, er hat aber auch nicht den scharfen Protestgeist, mit dem die Masse der Arbeitsmenschen gegen ihr mechanisiertes Leben rebelliert. In Liedern durchläuft dieser Kurt Schmidt nun die wichtigsten Phasen seines Lebens, die wichtigsten Phasen seines Erlebens. Als Widerspiel und als Ergänzung gibt Kästner ihm eine Frauengestalt zur Seite; die Chansonette, die das Leben leichter nimmt, und die doch als Mutter des Menschen dieser Zeit wieder eng mit dem Schicksal der Gegenwart verbunden ist.“
Ein Kassenschlager nicht nur seiner Zeit
„Einen vollen Sieg als Rundfunkkünstler errang hingegen der Vorkämpfer der Rundfunkkunst, Intendant F. W. Bischoff, Breslau, am 12. März mit dem Hörspiel „Leben in dieser Zeit“ von Erich Kästner. Hörspiel in diesem Falle: Orchester, gesungene Lieder, gesprochene Gedichte, sprechende Stimmen, Sprechchor. Alles prachtvoll zusammengewoben, fast Silbe für Silbe deutliche, zwingend, packend durch Geschlossenheit der funklichen Aufmachung; eine Erfindung, die raffiniert-geschickt eine große Zahl ernster Gedichte in eine lange, fesselnde Szene hineinschmolz; eine Musik, die nicht nur vorzüglich das Ganze untermalte und trug, sondern sogar eigenen starken Ausdruckswert hatte (komponiert von Edmund Nick!). Das Ganze, wie wir glauben, der erste vollkommene Sieg des Ringens um Rundfunkkunst, inhaltlich eine tief ernste, echt dichterische, vollmoderne Revue über Sinn und Wert des gegenwärtigen Lebens der Durchschnittsmenschen. Wiederholen! Ja wiederholen! Und dann weitere Versuche!“ (Volkszeitung Dresden, Mitte März 1931)
Und tatsächlich erlebte die lyrische Suite Leben in dieser Zeit auch mehrere solcher Wiederholungen und wie erwähnt auch Neuauflagen für Bühnen- und Konzerthäuser, bis das nationalsozialistische Regime im Jahr 1933 die Aufführung von Kästners und Nicks Erfolgswerk jedoch untersagte und es dadurch für ein halbes Jahrhundert aus dem kollektiven Gedächtnis zur europäischen Musikkultur verschwand.
Im 21. Jahrhundert war es schließlich soweit, dass die lyrische Suite ihr Comeback erleben durfte und in einer Gemeinschaftsproduktion von FIGARO, dem Kulturradio des Mitteldeutschen Rundfunks, und Deutschlandradio Kultur in ihrer ursprünglichen und vollständigen Fassung eingespielt wurde. Ohne Überraschung feiern auch heutige Pressestimmen das Werk Kästners und Nicks als sensationelle Wiederentdeckung. _So kann Leben in dieser Zeit auch Hörer unserer Zeit wieder begeistern und auf der vom Label CPO 2008 veröffentlichten CD „Lyrische Suite ‚Leben in dieser Zeit‘ (Radiomusiken Vol.1)“ nachgehört werden. Aufgenommen wurde das Stück vom 19. Bis 23. August 2003 in der Dresdner Lukaskirche von Solisten, dem Chor und Orchester der Staatsoperette Dresden unter der Leitung des Chefdirigenten Ernst Theis. (Zum Bedauern aller neugierigen Ohren gibt es online keine öffentlich zugänglichen Aufnahmen davon, ansonsten würden sie an dieser Stelle selbstverständlich mit allen Lesern geteilt werden. Allerdings finden sich auf Youtube einige Aufzeichnung von Songs oder Chansons in der Fassung für Klavier und Singstimme.)
Photographie von Edmund Nick aus dem Jahr 1930 – Foto: Dagmar Nick
CD-Cover der 2008 erschienenen Aufnahme von Erich Kästners und Edmund Nicks „Leben in dieser Zeit“
Diese eingespielte Fassung stellt eine Rekonstruktion da, die als Ergebnis der Gegenüberstellung vorhandener Quellen zusammengestellt wurde. Informationen bot als wichtigste Quelle zu Leben in dieser Zeit etwa die 1997 im Auftrag Edmund Nicks Tochter bei der Universal Edition erstellten Partitur. Diese enthält allerdings keinerlei Hinweise auf Klangmontagen, sondern nur auf Geräuscheffekte, die der Komponist Nick in die Partitur einarbeitete, wie etwa in der Einleitung des 1. Satzes eine Autohupe, Telefonklingel oder ein Eisenbahnsignal.
Erst das nach der Ursendung im „Vertrieb von C. Weller & Co. Verlag, Leipzig“ als Bühnenmanuskript erschiene Libretto Kästners, welches auch als einzige Quelle die dialogischen Zwischentexte überliefert, lieferte entscheidende Anweisungen für die Geräuschmontagen, welche sich im Wesentlichen zu Anfang und Ende der jeweiligen Sätze wiederfinden. Für den Beginn des ersten Satzes zum Beispiel fordert der Autor:
_„Lärm der Großstadt: Auftakt mit Schreibmaschinen und Telefonen. _.Dann dazu aktuelle Jazzmusik. _.Dann zu dem Büro- und Vergnügungslärm Straßenradau, Autohupen, Straßenbahnläuten, Zugstampfen.“
Den Anfang des Zweiten Satzes versah der Autor mit folgenden Anweisungen:
_„Akustischer Auftakt: Kuhglocken, Abendläuten; _.Harmonium mit „Nun ruhen alle Wälder…“; _.dilettantisches Klavierspiel: “Der fröhliche Landmann…“; _.Männerquartett (sentimental geknödelt): „Wer hat dich du schöner Wald…“, _.alles nur andeuten! _u.s.w. _.Abendglocken schwingen langsam aus. .Sentimentale Klangmontage.“
Den Hörern lassen Uwe Schneider und Ernst Theis in Bezug auf ihre Rekonstruktion wissen:
„Nach unserer Überzeugung ist ein Dokument entstanden, das quellenkritisch entwickelt wurde und musikhistorisch einen adäquaten Beitrag zur bislang kaum beachteten Gattung der Radiomusiken der Weimarer Republik leistet. Nicht zuletzt soll es – ganz im Sinne Edmund Nicks und Erich Kästners – gelingen den Hörer für das Musikerlebnis dieser sozial so ambivalente Zeit mit künstlerischen Mitteln zu interessieren.“
x
––von F. W. am 18. November 2020
Quellen
Ernst, Daniel: Zwischen Sprechen und Singen. ‚Performative Formgebung‘ in den Chansons von Edmund Nick und Erich Kästner aus der Münchner ‚Schaubude‘, ZGMTH 15/1, 2018, S. 81–119.
Ernst Toch: „Der meist vergessenste Komponist des 20. Jahrhunderts“
Ernst Toch um 1930 in Deutschland(Ernst Toch Archive, UCLA Library, Performing Arts Special Collections)
Der 1887 in Wien geborene Ernst Toch zählte Ende der 1920er Jahre noch zu den meistgespielten zeitgenössischen Komponisten im deutsch-sprachigen Raum. Wegen seiner provokanten Klänge, der maschinenhaften Rhythmik und eines scharf dissonanten Kontrapunkts galt er als einer der frechsten Tonsetzer dieser Zeit. Tochs 1930 komponierter Fuge aus der Geographie für vierstimmigen Sprechchor, die als Musterbeispiel für Musik der „Neuen Sachlichkeit“ verstanden wird, kommt bis heute weltweit eine populäre Rolle im Chorrepertoire zu. Mit der Flucht vor den Nationalsozialisten und der Emigration in die USA verschwand der Komponist aus den europäischen Konzertprogrammen und außer der Sprechfuge blieb dem Pubikum vieles seiner Musik bis heute noch unbekannt. Wenige Jahre vor seinem Lebensende bezeichnete Toch sich im Gespräch mit dem Musik-wissenschaftler Nicolas Slonimsky als „the world’s most forgotten composer“. Seit den 1990er Jahren allerdings werden seine Werke wieder häufiger aufgeführt und erfreuen sich aufgrund engagierter Tonaufnahmen und diverser Ersteinspielungen toch noch größeren Interesses der Hörerschaft abseits Geographischer Fugen.
Mit dem Vorbild Mozarts begann der junge Ernst Toch als Autodidakt vor allem Kammermusik im spätromantischen Stil zu komponieren. Innerhalb von Fachkreisen konnte er mit diesen frühen Werken bereits auf sich aufmerksam machen und mit seiner Ausbildung in Frankfurt avancierte Toch bald zu einem der maßgeblichen neusachlichen Komponisten. Dabei galten seine Interessen verschiedensten Genres und reichten von Bühnen- über Kammermusik bis hin zu experimenteller Musik für mechanische Instrumente und Schallplatten. Zwar nahm Toch in einigen Werken schon Ende der 1920er Jahre Abstand von seiner provokanten Tonsprache und bewies sich als ebenso begnadeter Melodiker, ein vollends neoromantischer Stil bestimmt Tochs Schaffen aber erst seit der Emigration. Er zeichnet sich durch weitgespannte Melodielinien aus und entwickelt eine Klanglichkeit die auch als karg, zuweilen als schroff bezeichnet wird.
x
Fuge aus der Geographie (1930) gesprochen von Junger Chor Aachen unter Fritz Wey
Gesprochene Musik – „Grammophonmusik“ erster Stunde
x
„Toch! .Sie sind ein Wahnsinniger!.Aber Hindemith, was bilden Sie sich einxxx mit solchen Werken?Sie sind doch ein aufrichtiger Bürger!“—Richard Strauss…….
Die Suite Gesprochene Musik für vierstimmigen Sprechchor, bestehend aus den drei Sätzen O-a, Ta-tam und Fuge aus der Geographie, komponierte Toch 1930 für die „Berliner Festtage für zeitgenössische Musik“, bei dem auch Musik am Programm stand, die speziell für elektrische Instrumente, für den Rundfunk sowie für Schallplatten konzipiert wurde. Tochs Gesprochene Musik war ursprünglich nämlich als Aufnahme für die manipulierte Wiedergabe durch ein Grammophon gedacht und versteht sich als ein Beitrag echter neusachlicher „Maschinenmusik“. Die Suite ist untrennbar verbunden mit der Vorstellung von der Schallplatte als einem klangverändernden Musikinstrument, die Toch der gängigen Idee von der Schallplatte als einem Reproduktionsmittel gegenüberstellt. Am 18. Juni 1930 kamen bei den Festtagen „Originalwerke für Schallplatten“ zur Aufführung, darunter eben die Suite Gesprochene Musik sowie Paul Hindemiths Trickaufnahmen. Im Veranstaltungsprogramm findet sich dazu folgende Erläuterung:
„Diese Platten sind die allerersten Experimente auf dem Gebiet einer originalen künstlerischen Produktion für die Schallplatte. Die Autoren möchten an diese mit unzulänglichen technischen Mitteln und ohne ausreichende Erfahrungen unternommenen Versuche nicht den strengen Maßstab eines Kunstwerks angelegt wissen. Sie sind sich bewußt, mit diesen Platten nichts weiter als kleine unterhaltende und scherzhafte Stücke geliefert zu haben, deren Wirkung durch Aufnahmetricks (Einkopieren, Mischen, Überblenden, Tonhöhenwechsel usw.) hervorgerufen wird und die vielleicht den Anfang einer weiteren künstlerischen Verwertung der spezifischen Möglichkeiten der Schallplatten darstellen können. “ („Originalwerke für Schallplatten“, in: Neue Musik Berlin 1930; Wiederdruck: Spiegel der Neuen Musik: Donaueschingen 1996)
x
Bedauernswerterweise gingen die Schallplatten als auch die Originalnoten beider Komponisten verloren. Nur das Manuskript zu Gesprochene Musik überdauerte die Zeit.
„Ich wählte das gesprochene Wort und ließ einen vierstimmigen gemischten Kammerchor genau festgelegte Rhythmen, Vokale, Konsonanten, Silben, und Worte so sprechen, daß unter Einschaltung der mechanischen Möglichkeiten bei der Aufnahme (Vervielfachung des Tempos und die damit verbundene Ton-Erhöhung), eine Art Instrumentalmusik entstand, die es wohl fast vergessen machen mag, daß ihrer Hervorbringung nur ein Sprechen zugrunde liegt.“ (Toch, E.: Über meine Kantate ‚das Wasser‘ und meine Grammophonmusik, Melos. Zeitschrift für neue Musik 9. Mainz 1930. S. 221f)
Tochs konkrete Verwendung der Schallplatte bleibt ungeklärt, die Möglichkeiten der kompositorischen Operationen aber lassen sich erahnen. Ralph Kogelheide vermutet, dass die drei Sätze der Suite ohne Manipulation aufgezeichnet und anschließend durch Veränderung der Abspielgeschwindigkeit sowie durch Überlagerung mehrerer Aufnahmen verfremdet wurden. Obgleich das Medium Schallplatte für die Entstehung der Komposition eine wesentliche Rolle spielte, ging die epochemachende Fuge aus der Geographie ohne akustische Veränderung in das Chorrepertoire ein. Dies ermöglichte eine Initiative von John Cage, der die Aufführungen der Originalkompositionen für Schallplatte in Berlin miterlebte und 1935 eine von ihm angefertigte Partitur zu Tochs Sprechfuge als englische Ausgabe in der Zeitschrift „New Music“ von Henry Cowell veröffentlichen ließ.
x
Ernst Toch:Fuge aus der Geographiefür Grammophon – ein Experiment von Miguel Molina und Leopoldo Amigo_______ ________:_______________________________________
x
Die Fuge aus der Geographie – ausgesprochen musikalisches Sprechen
Besonders bei seiner Fuge aus der Geographie aus der Suite Gesprochene Musik versuchte Ernst Toch, durch verschiedenste Operationen des motivischen (textlichen) Materials musikalische Effekte allein mit gesprochener Sprache zu bewirken. Um die an sich tonhöhenungebundenen Sprechgesänge dennoch in eine musikalisierte Form zu bringen, rückt Toch andere Aspekte des musikalischen Ausdrucks ins Zentrum seiner kompositorischen Arbeit. So gewinnt er dynamisierende Wirkung vor allem durch das Hervorheben rhythmischer Gegensätze und kontrastierender Klänge der Sprechlaute. Besonders im kontrapunktisch organisierten, polyphonen Formverlauf der Fuge, der zu großen Teilen durch imitatorische Behandlung des musikalischen Materials bestritten wird, können im Zusammenwirken jeweils einzelner Stimmen rhythmisierende oder klangliche Effekte vielfach genutzt werden, sodass ein musikalisches Moment im Sprechen evoziert wird.
Gemäß den strengen Satzregeln einer Fuge lässt Toch das Thema zunächst erst jede Stimme einzeln hintereinander durchlaufen, bevor er nach dieser ersten Durchführung des Fugenthemas die Stimmen freier behandelt. Diesem Hauptthema der Fuge aus der Geographie stellt der Komponist freilich ein Kontrasubjekt gegenüber, das nach erstem vollständigen Erklingen des Themas einsetzt und dieses sodann auch weiterhin begleiten wird. Den zwei Themen der Fuge ordnet Toch folgendes Motiv- bzw. Textmaterial zu:
Thema
1 Ratibor! Und der Fluss Mississippi und die
2 Stadt Honolulu und der See Titicaca; der
3 Popocatepetl liegt nicht in Kanada, sondern in Mexiko, Mexiko, Mexiko
Kontrasubjekt
1 Kanada, Malaga, Rimini, Brindisi, Kanada, Malaga, Rimini, Brindisi.
2 Kanada, Malaga, Rimini, Brindisi, Kanada, Malaga, Rimini, Brindisi.
3 Ja! Athen, Athen, Athen, A-
4 then, Nagasaki, Yokohama,
5 Nagasaki, Yokohama,
6 Athen, Athen, Athen, Athen
x
Thema der Fuge aus der Geogreaphie
–
Kontrasubjekt der Fuge aus der Geogreaphie
x
Jeanpaul Goergen deutet die Schlussfuge von Gesprochene Musik – wie auch die Dreisätzigkeit im Ganzen – als ironischen Hinweis Tochs auf die musikalische Werkhaftigkeit seiner Suite:
„Zwar erfüllt der Satz wesentliche Gattungsmerkmale einer Fuge: Die vier Stimmen setzen imitativ mit einem Thema ein, es gibt ein Kontrasubjekt, Augmentationen und Diminutionen. Doch wird die Ernsthaftigkeit, die mit dem strengen kontrapunktischen Satz assoziiert wird, sogleich durch den sinnfreien Text aus geographischen Namen humorvoll gebrochen. Zudem schließt Toch ein entscheidendes Element kontrapunktischer Arbeit von vornherein aus, indem er für einen Sprechchor komponiert: die aufeinander bezugnehmenden Tonhöhenbewegungen verschiedener Stimmen. Instrumentalmusik entstand, die es wohl fast vergessen machen mag, daß ihrer Hervorbringung nur ein Sprechen zugrunde liegt.“ (Goerge, Jeanpaul: Ernst Toch – Über meine Grammophonmusik, Westdeutscher Rundfunk, Studio Akustische Kunst, Sendung vom 03.06.1997.)
Erste Durchführung des Fugenthemas in der Fuge aus der Geographie (1930)von Ernst Toch
x
– von F. W. am 8. November 2020
Quellen
Kogelheide, Ralph: Jenseits einer Reihe ‚tönender Punkte‘ – Kompositorische Auseinandersetzung mit Schallaufzeichnung, 1900–1930, Dissertation zu Erlangung des Doktorgrades der Philosophie, Hamburg 2017.
Merrill, Julia: Die Sprechstimme in der Musik – Komposition, Notation, Transkription, Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2016.
Raz, Carmel: From Trinidad to Cyberspace: Reconsidering Ernst Toch’s “Geographical Fugue”, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Musiktheorie 9/2, 227–243, 2012.
Toch, Ernst: Über meine Kantate ‚das Wasser‘ und meine Grammophonmusik, in: Melos. Zeitschrift für neue Musik 9, S. 221f, Mainz 1930.
Dingler Hendrik: Das Musikinstrument Schallplattenspieler und dessen Erweiterungen im digitalen Zeitalter, Diplomarbeit für den Diplomstudiengang Komposition im Fach Elektronische Komposition, Essen 2013.
Den sechs Ironien für Klavier zu vier Händen (1920) stellt Erwin Schulhoff einen selbstverfassten Prolog voran:
Lernt Dada
Es lebe! Suff, Ekstase! – Foxtrott, -lieblichster Prinz und Hanswurst, Wenn Du Mädchen berührst, werden sie rasend und sind unersättlich geworden! Strumpfbänder schwirren und kokettieren mit abgelegten Offiziersuniformen, die nach Laster riechen! Ober, eine Zitronenlimonade à la naturelle! Ich liebe den Alkohol nicht mehr, dafür aber umso mehr schöne Beine! – Zigarettenreklame, – Berlin, Paris, London, New York! Weiber sind exhibitionistisch! Foxtrottkonkurrenz! Behebung aller Arten Insuffizienzen garantiert ohne Mittelchen! Strengste Diskretion in allen Angelegenheiten – Detektivbüro „Argus“ oder was beißt mich? – Bade zu Hause, bediene sich selbst, koche mit Knallgas! – Lizzi, – Du, – unvergleichlich bist Du, wenn Du Foxtrott tanzt, Dein Hinterteil (streng ästhetisch!!) pendelt zart und erzählt Bände von Erlebnissen! „Jazz“ ist die nächste Devise! – Ich werde für Dich einen Tango erfinden, den ich „Tango perversiano“ nenne und den Du – „zum Weinen schön“ tanzen wirst! Mit mir! – Lizzi, ekstatische Foxtrottprinzessin und letztes Ereignis!!!
Als Paul Hindemith durch die Uraufführung von Das Marienleben die Erkenntnis „ethischer Notwendigkeiten der Musik“ und „moralischer Verpflichtungen des Musikers“ gewann, begann sich das Wesen seiner Musik grundlegend zu ändern und einen neuen Stil zu entwickeln, der der Musik der „Neuen Sachlichkeit“ zuzurechnen ist und als einer deren Hauptvertreter auch schließlich Hindemith selbst gilt.
«Es gibt heute in der Musik kaum technische Aufgaben, die wir nicht bewältigen könnten. Die technischen und rein künstlerischen Fragen rücken ein wenig in den Hintergrund. Was uns Alle angeht, ist dies: das alte Publikum stirbt ab; wie und was müssen wir schreiben, um ein größeres, anderes Publikum zu bekommen; wo ist dieses Publikum?» – Paul Hindemith, „Über Musikkritik“ (1929)
„Neue Sachlichkeit“ als Begriff wird seit den 1920er Jahren bis heute als Stil- und Epochenbezeichnung diverser kultureller Modernisierungstendenzen der Weimarer Republik, sowie als Schlagwort für den damaligen Zeitgeist verwendet. Der Ausdruck, der 1923 von Gustav Friedrich Hartlaub für Tendenzen in der Bildenden Kunst geprägt und bald von Zeitgenossen auch auf Musik angewandt wurde, umschreibt eine gelungene Demokratisierung von Musik, die gegen den Selbstausdruck der Expressionisten ausgespielt wird. Musik der „Neuen Sachlichkeit“ ist unsentimental, nüchtern, formal fest gefügt, überschaubar und prägnant. Sie verschmäht das „Ausdrucksvolle“ ohne deshalb ausdruckslos zu sein. Diese Ästhetik führte in der Kunstmusik zur bewussten Verwendung bisher unbeachteter Genres und Stilelemente, darunter vor allem aus der zeitgenössischen populären Tanz- und Unterhaltungsmusik, und konnte sich an vergangenen Epochen stilistisch orientieren. Neusachliche Musik zielt auf Aktualität und Realität ab und reagiert auf die Welt der Moderne, deren massenkulturelle Phänomene sowie den technischen Fortschritt. Sie sucht Halt in der Gesellschaft und in den Institutionen, die ein Kulturleben tragen, und möchte sich als nützlich erweisen.
«Die Zeiten des steten Für-sich-Komponierens sind vielleicht für immer vorbei. Auf der anderen Seite ist dagegen der Musikbedarf so groß, dass es dringend nötig ist, dass sich Komponist und Verbraucher endlich verständigen.» – Paul Hindemith, »Wie soll der ideale Chorsatz der Gegenwart oder besser der nächstren Zukunft beschaffen sein?« (1927)
Ende der 1920er Jahre entwickelte Paul Hindemith lebhaftes Interesse für noch neue Formen des Musizierens, für neue Musikinstrumente und erprobte sich im Komponieren für neuen Medien. Er schrieb für die klassischen Institutionen des Musiklebens, komponierte Musik für hochvirtuose Berufsmusiker wie auch solche für Laien und Kinder (z.B. mit Bertold Brecht ein „Lehrstück“) und er richtete unbekannte alte Musik aufführungspraktisch ein. Daneben griff er neue Medien auf, komponierte für Grammophonschallplatten, neue mechanische und elektrische Instrument, wie etwa das von Friedrich Trautwein konstruierte und nach ihm benannte Trautonium, und konzipierte seine Musik in Hinblick spezifischer Anforderungen, etwa für die Radioübertragung des musikalischen Hörspiels Sabinchen (1930) und die Drei Anekdoten für Radio auch Drei Stücke für fünf Instrumente (1925), die genau die damaligen Sendemöglichkeiten von Musik im Rundfunk berücksichtigen.
2 . und 4. Satz aus Des kleinen Elektromusikers Lieblinge (1930)– Musik für 3 Trautonien, ngespielt von Paul Hindemith, Oskar Sala und Rudolf SchmidtFünf Instrumente
Konzert für Trautonium mit Begleitung des Streich-orchesters (1931) – Peter Pichler am Mixturtrautonium und Musiker des Orchesters des Bayerischen Rundfunks
Das Triadische Ballett von Otto Schlemmer wurde zu Lebzeiten seines Schöpfers in gleich 5 unterschiedlichen Choreographien mit jeweils unterschiedlichen Musikfolgen realisiert. Für die Aufführung des experimentellen Balletts in Donaueschingen schrieb Hindemith eine Tanz-Suite für Mechanische Orgel . Von dieser Komposition existiert zwar kein Notenmaterial, jedoch Schallplatten-Aufnahmen. Gemeinsam mit der Toccata für das mechanische Klavier (1926) wurden die zwei Stücke als Musik für mechanische Instrumente op. 40 im Juli 1926 in Donaueschingen erstaufgeführt. .
Triadisches Ballett für mechanische Orgel (1926)
Toccata Für Das mechanische Klavier (1926)
1921 aus der Kammermusik Nr. 1, op. 24 Nr. 1 – gespielt vom Ensemble Kronberg Academy Soloists
Mit der Uraufführung seiner Kammermusik op. 24 Nr. 1. bei den 2. Donaueschinger Kammermusiktagen am 31. Juli 1922 wurde Hindemith zum “Bürgerschreck” der 1920er Jahre abgestempelt. Die Komposition “parodiert einen kammermusikalischen Anspruch: sie präsentiert sich als Kammermusik, aber in rohem, undifferenziertem, dennoch außerordentlich charakteristischem Kolorit […] in einem etüdenhaften, undurchhörbaren und oft geräuschhaften Begleitsystem, das eben nicht motivisch ausgearbeitet und transparent ist”. (Schubert, Giselher) Das berüchtigte Finale 1921 greift auf den damals populären Foxtrott Fuchstanz von Wilm-Wilm zurück und damit auf jenen “Kitsch” der 20er Jahre, wie Kritiker meinten, den Hindemith selbst schrieb, wenn ihm “keine anständige Musik” mehr einfiel:
Es ist erreicht! Der modernen deutschen Musik ist es endlich gelungen, das heutige Leben dort zu fassen, wo es sich am frivolsten und gemeinsten austobt. Der dieses ‘Wunder’ zustande brachte, ist der Komponist Paul Hindemith in seiner Kammermusik op. 24 Nr. 1. Man steht einer Musik gegenüber, wie sie zu denken, geschweige zu schreiben, noch nie ein deutscher Komponist von künstlerischer Haltung gewagt hat, einer Musik von einer Laszivität und Frivolität, die nur einem ganz besonders gearteten Komponisten möglich sein kann. – Alfredf Heuss: „Der Foxtrott im Konzertsaal“, Zeitschrift für Musik 90, 1923.
Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer“ wie sie eine schlechte Kurkapelle morgens um 7 am Brunnen vom Blatt spielt (1925)gespielt vom Buchberger Quartett
Heuss, Alfred: „Der Foxtrott im Konzertsaal“, Zeitschrift für Musik 90, 1923.
Hindemith, Paul: „Über Musikkritik“, in: Melos 8 (1929), S. 106–108.
Hindemith, Paul: „Wie soll der ideale Chorsatz der Gegenwart oder besser der nächstren Zukunft beschaffen sein?“ (1927), in: Aufsätze, Vorträge, Reden, hrsg. von Giselher Schubert, Zürich 1994, S. 27.
Schubert, Giselher: Paul Hindemith: konzis, Mainz: Schott 2016.